Exil - Diaspora - Zerstreuung
von Jakob J. Petuchowski
Begriffsentwicklung
Das griechische Wort diaspora (= "Zerstreuung") dient als Übersetzung von Worten in der Hebräischen Bibel, die entweder "Exil" bedeuten oder sich wertneutral auf jüdische Siedlungen außerhalb Palästinas beziehen. Die Zweideutigkeit des griechischen Wortes begleitet bis zum heutigen Tag die innerjüdische Diskussion und beeinflußt daher auch die Darstellung der "Jüdischen Position", die vom jeweiligen Repräsentanten des Judentums in einem christlich-jüdischen Gespräch vertreten wird.
Im biblischen Denken spielt der Begriff "Exil" eine erhebliche Rolle. Gott bestraft sein sündhaftes Volk, indem er es aus seinem Land vertreibt. Aber die Zeit des Exils hat auch eine Grenze; wenn das Volk Buße tut und die Sünde verziehen ist, wird Gott das Volk in das Land Israel zurückführen. Das ist bekanntlich das Schema, das dem Begriff vom "babylonischen Exil" zugrunde liegt. Es beeinflußt auch die biblische Hoffnung, daß zur Zeit der messianischen Erlösung die "zehn verlorenen Stämme" des Nordreiches Israel mit den Judäern wieder vereint werden (vgl. Ez 37,15-28). Nach dem Fall Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. wurde der Gedankengang "Sünde - Exil - Buße - Erlösung" auch auf die neue politische Lage der Juden bezogen, d.h. auf das jüdische Leben in der Zeit zwischen der Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels und der Ankunft des noch erwarteten Messias. In säkularisierter Form wurden Teile dieses Gedankengangs auch in die moderne zionistische Ideologie aufgenommen, um damit den zionistischen Anspruch auf Palästina "biblisch" und gefühlsmäßig zu untermauern. Eine Form des Zionismus, heute vielfach im Staate Israel vertreten, gibt sogar die "Verneinung der Diaspora" als Parole aus, worunter sowohl die Verneinung der Existenzberechtigung der jüdischen Diaspora wie auch die Leugnung der Möglichkeit jüdisch-geistigen und kulturellen Schaffens außerhalb des Staates Israel ausgedrückt werden soll. Die Diaspora-Existenz der Juden wird aus dieser Sicht als "abnormal" betrachtet.
Gründe für die "Zerstreuung"
Es ist unbestritten, daß die jüdische "Zerstreuung" zum Teil durch die gewaltsamen Verschleppungen von Israeliten und Judäern aus Palästina verursacht wurde: sowohl im biblisehen Zeitalter als auch in der Folge der judäischen Aufstände gegen die Römer. Trotzdem sind Verschleppungen und Kriegsgefangenschaft nicht die alleinigen Ursachen der jüdischen Diaspora. Lange vor der ersten Tempelzerstörung gab es schon israelitische "Handelsniederlassungen" (wie die Einheitsübersetzung übersetzt) außerhalb des Landes Israel (vgl. 1 Kön 20,34). Im 6. Jahrhundert v. Chr. siedelte sich eine in ägyptischen Diensten stehende judäische Militärkolonie in Elephantine an. Selbst das "babylonische Exil" scheint erträglich gewesen zu sein. Als der Perserkönig Kyrus den judäischen Exulanten die Erlaubnis erteilte, nach Judäa zurückzukehren, machte nur eine Minderheit der verschleppten Judäer davon Gebrauch. Es muß in Babylonien ein intensives jüdisches Leben nach der Exilszeit gegeben haben, denn Esra und Nehemia, die sich im 5. Jahrhundert v. Chr. für die Wiederbelebung des palästinischen Judentums eingesetzt haben, und Hillel, ein Zeitgenosse Jesu, der zu den Architekten des rabbinischen Judentums gehört, kamen aus Babylonien.
Auch war das von den Römern verursachte "Exil" im Jahre 70 und danach nicht der einzige Entstehungsgrund für die weitverzweigte jüdische Diaspora, die es schon vor der Zerstörung Jerusalems gab. So schätzt z. B. der jüdische Geschichtswissenschaftler Salo W. Baron, daß es damals etwa zwei Millionen Juden in Palästina gab - aber vier Millionen Juden im Römischen Reich außerhalb Palästinas und mindestens eine weitere Million in Babylonien und in anderen Ländern, die von Rom nicht regiert wurden (A Social and Religious History of the Jews, Bd. I, 1. Teil, Philadelphia 1952, 167-171). Die zahlreichen jüdischen Gemeinden der Diaspora verdankten ihre Existenz nicht nur den damaligen Handelsniederlassungen, sondern auch dem ständigen Zuwachs an Konvertiten zum Judentum.
Kulturelle Bedeutung des Diasporajudentums
Aber nicht nur zahlenmäßig überragte das Diasporajudenturn das palästinische Judentum. Zwar war Palästina das "Land der Bibel" und der frührabbinischen Literatur, doch erlangte im Laufe der jüdischen Entwicklung der babylonische Talmud vor dem palästinischen den Vorrang in seiner autoritativen Bedeutung. Die jüdische Religionsphilosophie und Theologie, die hebräische Dichtung, die Hauptströmungen jüdischer Mystik, selbst die Entwicklung und Ausgestaltung der jüdischen Liturgie und, in neuerer Zeit, die Entstehung der Wissenschaft des Judentums, sind Errungenschaften der jüdischen Diaspora. So ist das Judentum, wie wir es kennen, in all seinen Schattierungen zwar auf der in Palästina entstandenen biblischen Grundlage errichtet, aber ohne die Fortentwicklungen, die es der Diaspora verdankt, ist es ganz undenkbar. Der im 2. Jahrhundert lebende Rabbi Oschaja mag in erster Linie an die politische Situation gedacht haben, als er sagte: "Eine Wohltat hat der Heilige, gelobt sei er, an den Israeliten geübt, indem er sie unter die Völker zerstreute" (bPes 87b). Stolz auf geistige und kulturelle Schöpfungskraft in der Diaspora begegnet uns in der Parodie auf Jes 2,3, die der im 12. Jahrhundert in Frankreich lebende Rabbenu Jakob Tam aus dem Munde der Talmudgelehrten im italienischen Bari und Otranto zitiert: "Von Bari geht die Lehre aus / und das Wort des Herrn aus Otranto" (Sepher Ha-Jaschar, Nr. 620, Wien 1811, 74a).
aus: Jakob J. Petuchowski/Clemens Thoma, Lexikon der jüdisch-christlichen Begegnung, Herder 1989