Aufbau des Staates Israel
von Micha Brumlik
Prof. Dr. Micha Brumlik, geb. 1947, ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Heidelberg. Er ist einer der Herausgeber von "Babylon" - Beiträge zur jüdischen Gegenwart und jüdischer Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft "Christen und Juden" beim Deutschen Evangelischen Kirchentag. Neben der Erforschung der moralischen Sozialisation arbeitet er an religionsphilosophischen Fragen.
Ährensammelnde Frauen, Spitzhacken schwingende Männer, Kräne, Baustellen und Traktoren ... Der Aufbau eines jüdischen Staatswesens in Israel/Palästina: eine Verherrlichung und Heroisierung körperlicher Arbeit. Es war der Publizist Max Nordau, ein Weggefährte des zionistischen Visionärs Theodor Herzl, der davon schwärmte, aus "Judenjungen" "junge Juden" zu formen und darüber hinaus ein "Muskeljudentum" forderte. Hatten doch die Juden und Jüdinnen beinahe zwei Jahrtausende um die Rückkehr nach Zion gebetet - jedes Jahr am Pessachfest, täglich im Achtzehnbittengebet. Das änderte sich erst nach der französischen Revolution, im Zeitalter des europäischen Nationalismus.
Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts kannte Europa zwei Formen jüdischer Existenz: im Westen eine Lebensform als oberflächlich akzeptierte Mitglieder bürgerlicher Nationalstaaten mit mehr oder minder vollendeter gesellschaftlicher Gleichberechtigung, im Osten die Existenz als Mitglieder einer benachteiligten, mit gewissen Sonderrechten versehenen ethnischen Minderheit. Das ist der Hintergrund, vor dem sich zu Beginn dieses Jahrhunderts drei Änderungen vollzogen: der jüdischen Religion, der Judenfeindschaft und des jüdischen Selbstverständnisses.
1. Die mehr oder minder geglückte Emanzipation fand religiös ihren Niederschlag in Reformjudentum und Neoorthodoxie, die sich bei allen sonstigen Differenzen in der Bejahung der Staatsbürgerlichkeit von Juden in der Diaspora einig waren.
2. Das sich spätestens seit der Dreyfusaffaire (d.h. der Verurteilung eines patriotischen französisch-jüdischen Offiziers durch eine antisemitische Armeeführung im Jahr 1891) abzeichnende Scheitern der bürgerlichen Assimilation im Westen leistete dem Entstehen einer jüdischen Nationalbewegung, die die Juden eher als Volksgruppe denn als Religionsgemeinschaft betrachtete und auf ein eigenes Territorium für dieses Volk setzte, Vorschub. Der durch eine repressive Politik erzwungene Zusammenhalt der Juden im Zarenreich und die darauf beruhende jiddische und hebräische Kultur versahen diesen abstrakten Nationalismus mit ethnischen Bindekräften.
3. Eine Judenfeindschaft, die sich anders als der religiöse Antijudaismus nicht mehr auf den Bewußtseinszustand von Juden, sondern auf deren ganzes, vermeintlich biologisch bestimmtes Sein bezog, führte zu einem mörderischen Antisemitismus, der im Massenmord an sechs Millionen europäischer Juden durch das nationalsozialistische Deutschland seinen Höhepunkt fand. Die historische Erfahrung radikaler Verlassenheit und tödlicher Ausgesetztheit setzte die zionistische Programmatik ins Recht und transformierte sie teilweise in eine Lehre von der absoluten Selbstbehauptung um jeden Preis.
Trotzdem ist daran zu erinnern, daß bis in die Zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts die wesentlichen religiösen Strömungen des Judentums: Orthodoxie und Neoorthodoxie, Chassidismus und Reformjudentum, jüdischer Sozialismus und jiddische Kulturbewegung den Zionismus aus unterschiedlichen, aber einander ergänzenden Gründen ablehnten. Während die einen - die eher assimilationswilligen Reformjuden - den Zionismus zurückwiesen, weil er die durch die Zerstreuung bewirkte Universalisierung des Judentums rückgängig zu machen drohte, lehnten die toratreuen Strömungen ihn genau deshalb ab, weil er die alleine Gott vorbehaltene Rücknahme der Zerstreuung durch eigenmächtige Vorwegnahme in blasphemischer Weise gefährde. Die sozialistischen Spielarten jüdischen Selbstverständnisses wiederum lehnten den Zionismus deshalb ab, weil er die universalistischen Gehalte der jüdischen Ethik - auch in ihrer säkularen Variante -zugunsten eines nationalen Partikularismus verrieten. Als Reaktion auf die Judenfeindschaft entstanden - voneinander zunächst unabhängig - zuerst in Russland, dann nach der französischen Dreyfusaffäre durch den Wiener Journalisten Theodor Herzl auch in England, Deutschland und Österreich zunächst kleine jüdische Nationalbewegungen, die die Judenfeindschaft als mittelfristig nicht behebbare, gesellschaftliche, ja sogar biologische Tatsache ansahen. Sie erwogen die Auswanderung der bedrohten Juden in ein ungefährdetes, selbstregiertes Territorium am Rande der Einflußzonen der damaligen Großmächte: im südlichen Lateinamerika, in Ostafrika oder im osmanischen Reich, zumal im Sinai oder dem Land Israel, in Palästina. Nachdem Theodor Herzl 1896 eine heftig umstrittene Programmschrift unter dem Titel "Der Judenstaat" vorgelegt hatte, gelang es ihm bereits 1897, in Basel den ersten Kongreß zusammenzurufen. Der Judenstaat sollte vor allem für die bedrängten jüdischen Massen Europas eine Art weltpolitisches Nachtasyl sein.
Seine wesentlich philanthropische Grundidee wurde von zwei anderen geistigen Strömungen überlagert: von einem romantischen Nationalismus und von einem lebensreformerischen Sozialismus. Für den romantischen Nationalismus bestand das Heilmittel gegen alle Formen jüdischer Entfremdung in der modernen Welt in einem sprachlich, geschichtlich und institutionell geeinten ethnischen Judentum. Der lebensreformerische Sozialismus sah die Wende zu einem neuen Leben nicht unbedingt im Klassenkampf, sondern in der Hinwendung zu Körper und Erde, zu Gemeinschaft und Stärke. Alle drei Elemente des modernen Zionismus: philanthropischer Territorialgedanke, romantischer Nationalstaat und lebensreformerischer Sozialismus entstanden völlig unabhängig von den Überlieferungen des gelebten Glaubens, ja ausdrücklich gegen sie. Die ersten Einwanderergruppen nach Palästina vor und nach dem Ersten Weltkrieg stellten entsprechend die Erlösung des durch die Diasporaexistenz entstellten jüdischen Körpers auf der verkarsteten Erde Palästinas durch kräftigende landwirtschaftliche Arbeit in den Mittelpunkt. Freilich verband sich dieser lebensreformerische Sozialismus nicht nur mit dem romantischen Nationalismus, sondern auch mit einem bürgerlichen Machtstaatsplan, der die Rettung des in Europa bedrohten jüdischen Volkes alleine durch den Aufbau einer jüdischen Armee,die militärische Eroberung des künftigen Territoriums beiderseits des Jordans und die Masseneinwanderung in Städte und nicht-sozialistische Siedlungen gewährleistet sah.
Erst die Entscheidung darüber, ob man als rettendes Territorium anstelle Palästinas im osmanischen Reich das damals dem britischen Empire zugehörige Uganda akzeptieren sollte, rührte an die traditionellen, religiösen Bindungen auch des modernen Judentums. Diese Entscheidung, die 1903 in die Vordergrund rückte, spaltete die Zionistische Bewegung. Ostjüdische Zionisten beteuerten unmißverständlich und dramatisch, daß die Wahl Ugandas als Territorium eines künftigen jüdischen Gemeinwesens auf die wanderungsbereiten jüdischen Massen Osteuropas abschreckend wirken würde. Sie würde die ohnehin stärkere Auswanderung nach Nordamerika bzw. die antizionistische, nationaljüdische Arbeiterbewegung "Bund" nur verstärken. Die Ugandakrise machte deutlich, daß ein Zionismus, der sich seiner religiösen Wurzeln gänzlich beraubte, keinen Widerhall finden konnte. Sie lenkte den Fluß der säkularen Erlösungsreligion von romantischem Nationalismus und lebensreformerischen Sozialismus in das Bett jüdischen Traditionsbewußtseins und gab ihm damit seine Richtung.
Daß der zunächst landwirtschaftliche Aufbau des rettenden Staates, also das Projekt eines "Landes ohne Volk für das Volk ohne Land" die Wirklichkeit erst der osmanischen Provinz, dann - nach dem ersten Weltkrieg - des britischen Mandats Palästina nicht traf, verleiht der jüdischen Staatsgründung tragische Züge.
Links unten auf der Vignette, die die Staatsgründung zeigt, tritt über einer Ähren haltenden Frau ein Mann mit Tarbusch und Patronengurt aus dem Relief hervor. Er ist ein Schomer, so der hebräische Begriff, ein Wächter. Angehöriger einer früh gegründeten Selbstverteidigungseinheit gegen arabische Freischärler, die die jüdische Staatsgründung auf dem von ihnen reklamierten Boden nicht akzeptieren wollten. Friedliche sozialistische Aufbauarbeit war dort nicht möglich, wo die Ansprüche zweier Völker aufeinandertrafen.
Literatur
Laqueur, W., Der Weg zum Staat Israel, Wien 1975
Ullman, A. (Hg.), Israels Weg zum Staat, München 1964