Die Menora in der jüdischen Tradition
von Michael Goldberger
Rabbiner Michael Goldberger, geb. 1961 in Basel. Er bekam seine rabbinische Ausbildung in Israel und Amerika und wurde u.a. von Rabbiner Zalman Schachter-Schalomi, dem Begründer und führenden Lehrmeister des Jewish Renewal, ordiniert. Er hat außerdem einen Diplom-Abschluß in Psychologie erworben und ist ausgebildeter Gestalt-Psychotherapeut. Seit 1993 ist er Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.
"Schafft Mir nur eine Öffnung so klein wie ein Nadelöhr! Ich werde es aufstoßen und daraus einen Einlaß schaffen, so groß wie das Portal eines Palastes" (Midrasch Hoheslied Rabba 5,2). Mit diesen wunderbaren Worten verdeutlicht G"tt dem Menschen, wonach Er sich sehnt und was Er von uns erwartet: daß wir eine Beziehung mit Ihm eingehen und uns mit Ihm verbinden. Um das zu erreichen, müssen wir in unserem Leben allerdings erst Platz schaffen für G"tt. Es bedarf heiliger Zeiten und heiliger Orte, um aus Alltag und Gewohnheit auszubrechen und G"tt zu erleben.
Sieben Wochen nach dem Auszug aus Ägypten erhielt das versammelte jüdische Volk die Zehn Gebote. Nach der Offenbarung am Berge Sinai forderte G"tt: "Macht mir ein Heiligtum, damit ich unter Euch verweilen kann" (Ex 25,8). Dieses Heiligtum ist das Symbol für den Raum, den jeder Mensch schaffen muß, um G"tt herein zu lassen. Tun wir dies, lebt G"tt in und mit uns. G"tt sagt ja nicht: "Macht mir ein Heiligtum, damit ich dort drin verweilen kann", sondern "damit ich unter Euch verweilen kann".
Die Tora beschreibt den Bau dieses Heiligtums in allen Einzelheiten. Es wird Stiftszelt genannt, weil alle Materialien vom Volk gestiftet wurden. Die eigentliche Arbeit unter der Anleitung eines Wunderkindes mit Namen Bezalel - er konnte als einziger G"ttes Beschreibungen des Tempels und seiner Geräte verstehen - dauerte ungefähr vier Monate. Es entstand ein eingezäunter Hof mit dem eigentlichen Tempel als Mittelpunkt. Dieser bestand aus 48 Säulen von 6 Metern Höhe, die derart zusammengefügt wurden, daß sie ein Haus von 18 Metern Länge und 6 Metern Breite ergaben. Als Dach dienten Teppiche und Felle, was dem Heiligtum den Charakter eines Zeltes verlieh. Statt einer festen Tür gab es einen kunstvoll verzierten Vorhang, in den auf der einen Seite Löwen und auf der anderen Seite Adler eingewoben waren. Ging man durch diese Öffnung, befand man sich im Heiligsten, welches noch einmal durch einen ähnlichen Vorhang im Verhältnis 2:1 unterteilt war. Der so abgetrennte hintere Teil hieß "Allerheiligstes". Dort wurden in einer vergoldeten Truhe die zwei Tafeln, auf denen G"tt die Zehn Gebote eingraviert hatte, aufbewahrt. Die Bundeslade blieb allerdings dem Volk verborgen. Niemand durfte nämlich das Allerheiligste betreten, mit Ausnahme des Hohenpriesters. Selbst dieser tat dies bloß einmal im Jahr, nämlich an Jom Kippur, dem Versöhnungstag.
Im vorderen, größeren Teil des Stiftszeltes befanden sich einige andere heilige Geräte, die von allen bewundert werden konnten. In der Mitte stand ein Räucheraltar und weiter rechts ein Tisch mit zwölf Brotlaiben. Ihm gegenüber schließlich, an der südlichen Wand, überragte ein prachtvoller Leuchter aus reinem Gold alle anderen Kultgegenstände - die Menora.
Während der vierzigjährigen Wüstenwanderung trugen die Israeliten das Stiftszelt stets mit sich. Zu diesem Zweck ließ es sich auseinander- und wieder zusammenbauen. Auch alle Geräte - mit Ausnahme der Menora - besaßen Tragestangen. Nach der Eroberung des Gelobten Landes kam das Heiligtum nach Schilo, Nob und Gibeon, bevor es schließlich im 1. Tempel in Jerusalem integriert wurde. König Salomo ließ nicht nur eine Menora, sondern zehn goldene Menorot aufstellen, die später zerstört wurden. Im 2. Tempel soll dann wieder bloß eine Menora gestanden haben, die dann vor fast 2000 Jahren geraubt wurde. Die ursprüngliche Menora aus den Zeiten Moses ist allerdings schon viel länger verschollen.
Ihre einzigartige Schönheit und die ihr innewohnende Symbolik machten die Menora zu einem der edelsten Wahrzeichen des jüdischen Volkes. Tausende von Synagogen und jüdischen Schulen sind mit einer Menora gekrönt. Der siebenarmige Leuchter ziert das Staatswappen Israels, und auch in den Gerichtsräumen des jüdischen Staates hängt jeweils die Abbildung einer Menora. Unzählige Juden tragen eine kleine Menora als Halskettchen oder Ohrring. Die Menora ist das jüdische Kultzeichen par excellence. Wir sind in der Tat nicht nur das Volk des Buches, sondern auch das Volk der Menora.
Form und Gestalt der Menora
In der Hebräischen Bibel wird an zwei verschiedenen Stellen beschrieben, daß für das Stiftszelt ein Leuchter angefertigt werden muß und wie er aussehen soll (Ex 25,31-40; 37,17-24). Mose allerdings rätselte trotz der ziemlich ausführlichen und detaillierten Beschreibungen lange herum, wie genau die Menora herzustellen sei. G"tt formte ihm deshalb ein himmlisches Muster aus Feuer. Er erblickte in einer Vision einen siebenarmigen Leuchter aus reinem Gold, welcher aus einem Stück gehämmert war. Außer den sieben Kelchen war nichts angesetzt. Alles, was am Leuchter war, stammte aus ihm selbst.
Den Beschreibungen der Tora mit den entsprechenden Interpretationen können wir Form und Gestalt der Menora entnehmen. Sie besteht aus einem Sockel mit einem Mittelschaft, an dessen oberem Ende ein länglich-schmaler Kelch angebracht ist. Von beiden Seiten zweigen jeweils drei Arme ab, die ebenfalls in Kelche münden. Alle sieben Röhren (Mittelschaft plus sechs Seitenarme) sind mit knospen- und blütenförmigen Ornamenten verziert. Die seitlichen Röhren wachsen bis zum Mittelschaft empor, so daß alle sieben Lampen in gleicher Höhe liegen.
In der Tora sind keinerlei Maße angegeben. Somit ist nicht eindeutig, wie hoch und schwer der Leuchter sein mußte und in welchem Winkel die Seitenarme vom Mittelschaft abzweigen sollten. Der Talmud allerdings berichtet, daß er etwa 1,5 Meter hoch und 75 kg schwer war. Darüber, ob die Seitenarme geschwungen oder in einem spitzen Winkel vom Stamm abgingen, herrschen gegensätzliche Auffassungen. Wie auch immer, äußerlich gleicht die Menora zweifellos einem blühenden Baum, und das nicht bloß der blumenartigen Verzierung wegen. Sie diente im Stiftszelt als Leuchter, wobei es die Aufgabe der Priester war, frisch gepreßtes, reines Olivenöl in die sieben Kelche einzufüllen. Die Dochte in den Kelchen waren derart angeordnet, daß die seitlichen Flammen jeweilig dem Mittelschaft zugewandt waren. Die Lampen wurden bei Einbruch der Nacht angezündet und brannten bis zum Morgengrauen. Im 2. Tempel ließ man drei der sieben Lampen auch tagsüber lodern. Merkwürdigerweise war es den Priestern geboten, selbst am heiligen Schabbat, an dem das Anfeuern eigentlich strikt untersagt ist, dafür zu sorgen, daß die Lichter der Menora nicht erloschen. Es scheint, als verkörpere die Menora außerordentlich kraftvolle und erhabene Ideen von überragender Wichtigkeit. Ihrer vielschichtigen Symbolik wollen wir uns nun zuwenden.
"Ein Licht unter den Völkern"
In erster Linie verbreitet die Menora Licht. Nachdem das jüdische Volk ein "Licht unter den Völkern" (Jes 42,6) werden soll, liegt die enge Verbundenheit zwischen Juden und ihrer Menora auf der Hand. Im Gegensatz zum Tisch vis-à-vis mit seinen Brotlaiben, der offenkundig materielle Wohlfahrt symbolisiert, verkörpert die Menora geistige Erleuchtung, Einsicht und die damit verbundene Lebensfreude.
Um das Wesen von Licht zu entdecken, können wir uns der biblischen Schöpfungsgeschichte zuwenden. Im Anfang war die Welt finster, wirr und deprimierend. Dann sprach G"tt: "Es werde Licht" (Gen 1,2). Das so hervorgerufene Licht kam nicht von Sonne, Mond oder Sternen, die ja erst am vierten Tag erschaffen wurden. Es handelt sich bei diesem Licht auch nicht um eine simple Beleuchtung, sondern um ein übersinnliches Licht, eine Art G"ttliche Lebenskraft als Antwort des Ewigen auf Verzweiflung und Konfusion. Auf Hebräisch heißt dieses Licht or. Auch an anderen Stellen, bei der die Bibel diesen Begriff einsetzt, meint sie mit or Leben. (Vgl. etwa Spr 6,23; Jes 2,5; Hiob 29,3; Ps 119,105.)
Die Tora erzählt uns in ihren ersten Zeilen, daß in dieser Welt immer wieder dunkle Zeiten über uns hereinbrechen und das wir oft Kummer und Sorge erleiden müssen. Und sie sagt, daß wir uns und anderen mit unserer Lebenskraft helfen können, indem wir - G"tt gleich - Licht in die Dunkelheit bringen. In einer ersten Annäherung erinnert uns die Menora im Tempel also daran, daß G"tt als allererstes Licht geschaffen hat, welches dadurch Teil des Schöpfungsaktes wird. G"tt gibt uns diese Kraft zu Beginn, weil wir als Sein Partner in der Schöpfung der Welt fortfahren sollen, Licht in das Universum zu bringen. Nun können wir das erste Gebot verstehen, welches im gerade errichteten Stiftszelt erfüllt werden mußte: die sieben Lichter der Menora zu entzünden (vgl. Num 8,2). Auf der physischen Ebene diente die Menora der Beleuchtung des Stiftszeltes. Auf der geistigen Ebene soll sie Herz und Verstand erleuchten und das jüdische Volk inspirieren, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, indem es Raum schafft für das Licht der Tora.
Das Geheimnis des Baumes
Wir haben schon festgestellt, daß die Menora in ihrer äußeren Form einem Baum gleicht. Der Sockel entspricht dabei dem Wurzelstock, der Mittelschaft dem Stamm und die seitlichen Arme den Ästen. Der ganze Leuchter ist mit zahlreichen Ornamenten geschmückt, die den Charakter der Menora als Symbol eines blühenden Baumes unterstreichen. Wir finden an jedem Arm mandelförmige Kelche, Blumen und Knäufe, die an Fruchtknoten erinnern.
Das auffälligste Merkmal eines Baumes ist seine stetige Veränderung. Der Baum wächst gleichzeitig in die Tiefe und in die Höhe und fügt seinem Stamm jährlich einen neuen Ring hinzu. Er entwickelt sich, kommt zur Blüte und schafft Früchte und farbige Blätter. Später verliert er sein Laub, erscheint unvermittelt vertrocknet und leblos, bevor er schließlich wieder zu Kräften kommt und sich erneuert. Mit anderen Worten: Die Menora repräsentiert ihrer Form nach Entfaltung, Entwicklung und Wachstum.
Bedenken wir andererseits, daß die Menora das einzige Gerät im Stiftszelt war, welches ganz aus Metall, und zwar aus Gold bestand, so erkennen wir etwas Eigentümliches: ihrem Material nach steht die Menora scheinbar für etwas Entgegengesetztes zu dem, was sie ihrer Form nach ausdrückt, nämlich für das Feste, Beharrliche und Unveränderliche. Zwar gehören Metalle zu den Stoffen, die sich durchaus formen und bilden lassen, wenn man sie mit Feuer und Hammer zu bearbeiten versteht. Später jedoch verfügen sie über eine außergewöhnliche, fast unnachgiebige Härte.
Die Menora vereinigt in sich also zwei Eigenschaften, die sich auf den ersten Blick widersprechen, auf den zweiten aber ergänzen: das sich ewig Gleichbleibende und das sich unablässig Verändernde. Nun wissen wir, daß die Menora im Tempel als Träger des Ewigen Lichtes diente. Bis zum heutigen Tag finden wir in Erinnerung daran in jeder Synagoge ein Ewiges Licht - in dieser Zeit meistens ein elektrisches -, welches tatsächlich immer brennt. Die Menora verbildlicht somit eine großartige Weisheit. Wenn das Licht ewig brennen soll, wenn es uns für alle Zeiten Erkenntnis und Erleuchtung spenden soll, dann brauchen wir zugleich Beständiges und Veränderliches, Altes und Neues.
Seit Tausenden von Jahren trotzt das Judentum allen feindlichen Versuchen, Religion oder Volk zu vernichten. Daß wir trotzdem überlebt haben, liegt weder ausschließlich daran, daß es immer traditionsbewußte Juden gab, die streng am Althergebrachten festgehalten haben, noch daran, daß es stets Juden gab, die den Mut zur Erneuerung besaßen. Wir sind vielmehr im Spannungsfeld zwischen Alt und Neu, zwischen Bewahren und Verändern gewachsen. Als Jeremia die Zerstörung des Tempels und damit auch den Verlust der Menora beweinte, wuchs aus seiner Verzweiflung ein inbrünstiges Gebet, welches bis heute in der synagogalen Liturgie oft gesprochen wird: "Führe uns zu Dir zurück, G"tt, und wir werden umkehren. Erneuere unsere Tage wie einst" (Klgl 5,21). Der Prophet erkannte, was nach der Vernichtung des geistigen Zentrums des jüdischen Volkes und der damit einhergehenden Beraubung des damals alltäglichen direkten Kontaktes mit G"tt mittels Opferdienst erforderlich war: Erneuerung im Hinblick auf die so schwere Herausforderung.
In einem gewissen Sinne läutete bereits Melchizedek, Priesterkönig von Salem, diese Epoche ein, die sowohl Erhaltung als auch Reform benötigt. Er überbrachte Abraham als Gastgeschenk Brot und Wein (vgl. Gen 14,18). Vom Wein wissen wir, daß er wertvoller und besser wird, je älter er ist. Brot aber schmeckt nur dann gut, wenn es frisch ist. Wir brauchen also Altes und Junges gleichzeitig, in der Tora ausgedrückt durch Wein und Brot. Nicht umsonst spielen diese Elemente sowohl im Judentum am Schabbat, dem Tag, welcher der Ewigkeit gewidmet ist, wie auch in der Kirche eine entscheidende Rolle. Die Menora drückt dieses Wissen aus, indem es beide Kräfte - Beständigkeit und Erneuerung - in sich vereint.
Das Geheimnis der Zahl Sieben
Ein bedeutsames Merkmal der Menora ist die Zahl der Lichter. Die Zahl Sieben kommt in der Bibel tatsächlich sehr oft vor. So sollen wir am Schabbat - dem siebten Tag der Woche - alltägliche und schöpferische Arbeiten ruhen lassen und unsere Zeit der Seele weihen. Wir sind verpflichtet, jedes siebte Jahr darauf zu verzichten, Felder und Äcker im Heiligen Land zu bearbeiten. Es ist, als ob auch sie Ruhe und Besinnung bräuchten. Das entsprechende Jahr wird in der Bibel Schabbatjahr genannt. Schließlich rufen wir nach jedem siebten Schabbatjahr, also alle 50 Jahre, ein Jubeljahr aus. Es wird derart gefeiert, daß alle abhängigen Knechte und Diener freikommen und alle Ländereien wieder zu ihrem ursprünglichen Besitzer zurückkehren. Die Zahl Sieben und ihr Rhythmus drücken der religiösen Zeitrechnung ihren Stempel auf. Sie mahnen an, um unseres eigenen Lebens willen die Verbindung mit Ursprung und Quelle allen Seins zu suchen. Der siebte Tag schafft im Gegensatz zu den sechs Werktagen eine andere Atmosphäre, die von Gelassenheit, Heiterkeit, Frieden und Ruhe geprägt ist, und nicht von Arbeit, Mühe und Anstrengung. Wir heiligen den siebten Tag, indem wir davon ablassen, andere Geschöpfe zu manipulieren und uns statt dessen dem Schöpfer hingeben. Was aber ist das erste, was wir tun, sobald der Schabbat naht? Wir entzünden Lichter. Auch alle anderen siebten Einheiten unterstützen diese Bemühungen. An all diese Dinge erinnert die Menora mit ihren sieben Leuchtern.
Die dialogische Mentalität
Viele Menschen glauben, daß die Zahl Sieben eine besondere Heiligkeit besitzt. In der Kabbala, der jüdischen Mystik, gelten alle Zahlen als heilig, wobei sie jeweils unterschiedliche Eigenschaften bergen. In der Natur drückt die Sieben eine vollständige, in sich geschlossene Ganzheit aus. Die Tonleiter etwa umfaßt sieben verschiedene Töne, wobei der achte wieder dem ersten auf einer neuen Ebene entspricht. Auch unsere Woche besteht aus sieben Tagen, wobei mit dem achten bereits die nächste Woche beginnt. Die Zahl Sieben bedeutet Vollkommenheit, Schöpfung und Gesamtheit. Sie vereint in sich wiederum zwei Pole, die sich auf den ersten Blick widersprechen und auf den zweiten ergänzen: Einheit und Vielfalt.
Wir alle sind auf der Suche nach der einen, absoluten Wahrheit. Nach jüdischer Auffassung ist Wahrheit aber nicht monolithisch, sondern vielschichtig, universell und allumfassend. Wahrheit heißt auf Hebräisch ämät. Es schreibt sich mit den Buchstaben aleph - mem - tav. Nun ist Aleph der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets, Tav der letzte und Mem steht genau in der Mitte. Das Wort ämät drückt aus, daß die Wahrheit sprichwörtlich alles - von A bis Z - einschließt.
Obschon die Menora aus einem Guß besteht und nicht etwa nach und nach zusammengefügt wird, schafft und umfaßt sie mit ihren sieben Armen und Lichtern Mannigfaltigkeit. Alle Lichter stehen auf einer Basis, besitzen eine Wurzel. Ein Stamm trägt die Fülle allen geistigen Erkennens. Der Stamm manifestiert sich aber vielgestaltig.
Die Menora als Symbol für Erkenntnis offenbart so, daß der Mensch keine absolute Wahrheit zu erkennen vermag. Sie zeigt sich uns vielmehr in verschiedenen Aspekten und mit zahlreichen Facetten. Die Menora lehrt, daß aus einem Stamm viele Zweige wachsen, und daß kein Licht ernsthaft von sich behaupten kann, es sei heiliger als sein Nächstes. Diese Einsicht geht weit über die Aussage der berühmten Ringparabel heraus. Nathan der Weise setzt in seinem Gleichnis voraus, daß es eine wahre Religion gäbe, die bloß nicht mehr festzustellen sei. Die Menora hingegen lehrt, daß viele Wege der Erleuchtung zugleich wahr sind. Mehr noch: der eine Pfad führt nur deswegen zum Ziel, weil es auch andere Pfade gibt. Auf der Suche nach Wahrheit müssen wir nicht nur den Standpunkt des anderen tolerieren. In einem nächsten Schritt sollen wir verstehen, daß "die Worte von diesen und von jenen Worte des lebendigen G"ttes sind" (Babylonischer Talmud, Eruvin 13b). Schließlich werden wir verstehen, daß unsere Haltung erst dadurch wahr wird, daß auch andere Haltungen da sind. In diesem Sinne ruft die Menora eindringlich zu wahrem Dialog auf.
Unendliches Licht
Kehren wir noch einmal zur Schöpfungsgeschichte zurück. Die Kabbalisten erzählen eine merkwürdige Geschichte: ursprünglich existierte nur das Unendliche Licht des Ewigen. Als G"tt die Welt erschaffen wollte, zog Sie Ihr Licht ein wenig aus dem Zentrum zurück und bildete so ein sphärisches Vakuum. G"tt schuf Raum. In diesen Raum stellte Sie Gefäße, die allerdings im Unterschied zu Ihr selbst endlich, mehrmalig und verschiedenartig waren. Während G"ttes strahlendes Licht emaniert, sollten die Gefäße empfangen. Sie konnten jedoch selbst schmalste Lichtstreifen nicht ertragen und zerbrachen. So kam es zu dem Chaos, von dem die Bibel zu Beginn berichtet.
Die Kabbalisten lehren nun, daß die Welt und wir selbst diese zerbrochenen Gefäße sind. Unsere Aufgabe, ja der Sinn des Lebens überhaupt besteht darin, uns zu heilen, um dereinst G"ttes Unendliches Licht empfangen zu können. Einer der Gründe, weswegen wir dazu außerstande waren, bestand darin, daß jedes Gefäß das Licht eigenständig aufnehmen wollte. Die Heilung der Welt besteht in dem aufregenden Prozeß, uns selbst in unseren Beziehungen so zu entwickeln, daß wir gemeinsam mit anderen G"ttes Geschenk des Unendlichen Lichtes der Liebe annehmen können. Die Mystiker nennen dies Tikkun Olam (Wiederherstellung, Erlösung der Welt).
Bevor G"tt die Welt erschuf, hatte Sie eine Vision. Sie träumte von einer Welt voller Frieden, Liebe und Harmonie. Die Tora berichtet vom Garten Eden mit dem Baum des Lebens in seinem Zentrum. Dort hätten wir diese Vision verwirklichen können. Über Adam und Eva, den Urmenschen, soll ein Licht gestrahlt haben, dank dessen sie die Welt von einem Ende bis zur anderen geschaut haben. Die Kabbala beschreibt, wie auch über dem ungeborenen Kind G"ttliches Licht scheint, mittels dessen es von einem Ende der Welt zum anderen zu blicken und G"ttes Vision zu erkennen vermag. Die Ausweisung aus dem Paradies entspricht in dieser Analogie der Geburt des Kindes, bei der ein Engel das Licht entfernt. Nun gehen wir durch das Leben, um G"ttes Pläne zu verwirklichen. Das Licht ist aber nicht erloschen. Es ist verborgen in der Tora. Dort sind G"ttes Visionen beschrieben. Dort finden wir Anleitung, wie wir unsere Aufgabe erfüllen können. Das Wort Tora enthält tatsächlich auch das Wort or (Licht).
Kommen wir ein letztes Mal zur Menora zurück. Sie verkörpert natürlich nicht irgend einen Baum, sondern den Baum des Lebens im Garten Eden. Das Ziel in dieser Welt besteht darin, die vollkommene Einheit des Paradieses zu gestalten. Der heilige Tempel erinnert uns an diese Aufgabe, wobei wir letztlich die ganze Welt in ein Haus G"ttes wandeln müssen. Um dies zu erreichen, pflanzen wir von neuem den Baum des Lebens, der von der Menora dargestellt wird. Sie erinnert uns daran, daß wir G"ttliche Lebenskraft nutzen dürfen, um Verzweiflung zu überwinden, daß wir nur im Spannungsfeld zwischen Bewahrung und Erneuerung wachsen, daß wirkliche Einheit Gegensätze birgt und daß wir mit anderen in einen ehrlichen, kollaborativen Dialog treten müssen.
Einst erblickte Sacharja in einer prophetischen Vision den zukünftigen Tempel, das Haus, in welchem alle Völker sich mit einem Schöpfer vereinen werden (vgl. Jes 56,7). Er sah eine goldene Menora, umrahmt von zwei Olivenbäumen. Dazu vernahm er eine Stimme, die verkündete: "Nicht durch Macht und nicht durch Stärke, sondern durch Meinen Geist" (Sach 4,6).
Materialien
Die Menora
eine Erzählung von Rebbe Nachman aus Breslow
nacherzählt von Yonassan Gershom
Es gab einmal einen Sohn, der das Haus seines Vaters verließ, um zu reisen und sein Glück in fernen Ländern zu suchen. Nach vielen Jahren kehrte er nach Hause zurück und prahlte damit, daß er die Kunst alle Arten von Lampen herzustellen, zu meistern gelernt habe. Und er schlug seinem Vater vor, er solle doch alle Lampenmacher des Ortes einladen, um seine überragende Handwerkskunst zu begutachten.
Der Vater lud alle Meister des Lampenmacher-Handwerks ein, damit sie sähen, welche Fähigkeiten sein Sohn sich in den Jahren seiner Abwesenheit angeeignet hatte. Der Sohn seinerseits wollte für diesen Anlaß ein ganz besonderes Meisterstück herstellen. So ging er in seine Werkstatt und schuf eine Menora. Aber als er sie herausbrachte, um sie allen zu zeigen, da erschien sie sehr häßlich. Aus Höflichkeit sagte niemand etwas darüber. Aber der Vater, der die Menora selbst sehr häßlich fand, suchte später jeden einzelnen der Handwerker insgeheim auf und fragte sie nach ihrer ehrlichen Meinung. Alle stimmten darin überein, daß die Menora von schlecht gearbeitet und sehr häßlich war.
Später sagte der Sohn zu seinem Vater: "Wie fandest du meine Menora? Hast du die große Weisheit meiner Handwerkskunst erkannt?" Der Vater antwortete: "Nein, all die anderen Meister sagten mir, daß es ein häßliches Stück und schlecht gearbeitet sei."
"Ja," sagte der Sohn, "aber das ist gerade das Geheimnis! Durch diese Menora habe ich meine Meisterschaft bewiesen, weil ich jedem von ihnen ihre eigenen Fehler gezeigt habe. In dieser Lampe vereinigte ich alle Unvollkommenheiten der Meister dieser Handwerkskunst. Sie sagen alle, die Menora sei häßlich. Niemand aber hat bemerkt, daß jeder in der Lampe etwas anderes als häßlich oder als schön empfunden hat . Der eine Handwerksmeister sah einen bestimmten Teil der Lampe als schwach gefertigt an, und einen anderen Teil als schön. Aber beim nächsten Meister war es genau umgekehrt: der empfand den ersteren Anteil als schön, den letzteren als häßlich. Und das war bei allen von ihnen der Fall. Was der eine als schlecht ansah, sahen die anderen als gut. Jeder übersah die Fehler, die er selbst auch gemacht hätte, und sah nur die Unvollkommenheiten der anderen Teile. Aber in Wahrheit war die ganze Menora aus nichts anderem als nur aus Fehlern gemacht. Du siehst, Vater, daß ich diese Menora absichtlich auf diese Weise hergestellt habe, vollkommen aus Fehlern und Mängeln, um allen Meistern zu zeigen, daß keiner von ihnen vollkommen ist. Aber wenn ich es gewollt hätte, hätte ich eine wunderschöne Menora herstellen können.
* * *
Und die Moral von der Geschicht?
Wir alle übersehen unsere eigenen Mängel und konzentrieren uns auf die Fehler der anderen. Rebbe Nachman lehrte seinen Chassidim, es gerade umgekehrt zu tun: immer nach dem Guten im anderen zu suchen, sogar wenn man wirklich gründlich suchen muß, um es zu finden.
Jeder von uns ist eine "Menora", das heißt ein Gefäß für das Heilige Licht, das unablässig aus Gott fließt. Im wirklichen Leben gibt es keine "Menora", keinen Menschen, der nur aus Fehlern besteht. Jeder Mensch hat gute und schlechte Züge. Und sogar der schlimmste Sünder ist, in den Worten des Talmud, "so voll von Mitzwot (guten Taten) wie ein Granatapfel voll von Samen ist."
Der Sohn aus der Geschichte wußte das, aber er wußte auch, daß die Handwerker bei ihren Kollegen nur die Mängel sehen, während ihre eigene Arbeit ihnen als vollkommen erscheint. Daher zeigte er ihnen, indem er die Lampe nur aus Fehlern machte, daß nichts schön ist, wenn wir darauf bestehen, die Welt nur auf diese negative Weise zu betrachten. Andererseits, wenn wir nach den positiven Zügen im Leben und Tun der anderen sehen - auch wenn es nicht vollkommen ist -, dann können wir überall Schönheit erblicken.
(Übersetzung aus dem Englischen: Uwe Ritter)